Belastungs-Beanpruchungs-Konzept und Gefährdungsbeurteilung
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von Wolfgang Laurig Die Begriffe "Belastung" und "Beanspruchung" Die beiden Worte „Belastung" und „Beanspruchung" mit Hinweisen auf verschiedene Bedeutungen in der Arbeitsphysiologie finden sich erstmalig bei Lehmann (1). Eine erste anschauliche und inhaltlich eindeutige Gegenüberstellung, jetzt aber bereits im Sinne von verschiedenen Begriffen findet sich dann in Valentin et al. (2): „Unter Belastung ist jede Einflussgröße zu verstehen, die am menschlichen Organismus eine Wirkung hervorrufen kann." „Als Beanspruchung bezeichnet man Veränderungen des Organismus, die durch Belastung hervorgerufen werden." Diese Erläuterungen lassen offen, welcher Art die Wirkung und die Veränderungen sein können. Die durch die Wirkung verursachten Veränderungen können also sowohl physisch als auch psychisch sowie reversibel oder irreversibel sein. Diese begrifflichen Beschreibungen erscheint an Anschaulichkeit neueren Definitionen überlegen, wie man sie beispielsweise in DIN EN ISO 6385 (3) findet: "Arbeitsbelastung ist die Gesamtheit der äußeren Bedingungen und Anforderungen im Arbeitssystem, die auf den physiologischen und / oder psychologischen Zustand einer Person einwirken." "Arbeitsbeanspruchung ist die innere Reaktion des Arbeitenden auf die Arbeits-belastung, der er ausgesetzt ist und die von seinen individuellen Merkmalen (z. B. Größe, Alter, Fähigkeiten, Begabungen, Fertigkeiten usw.) abhängig ist." Vom Begriffspaar zum Konzept Fast gleichzeitig mit den ersten Vorschlägen zur Differenzierung der Begriffe wurden in der Arbeitswissenschaft auch Vorschläge publiziert, diese Begriffe in ihrer gegenseitigen Abhängigkeit zu erklären (vgl. z. B. Laurig et. al (4)). Aus heutiger Sicht erscheint es bemerkenswert, dass diese Vorschläge damals nicht an Beispielen muskulärer Arbeit entwickelt wurden, sondern zur Beurteilung der Tätigkeit von Fluglotsen, also an Beispielen informatorischer Arbeit. Aus diesen Vorschlägen entwickelte sich dann das sogenannte Belastungs-Beanspruchungs-Konzept das von Rohmert (5) ausführlich beschrieben und diskutiert wurde. Die in diesem Konzept beschriebenen, prinzipiellen Zusammenhänge zwischen „Belastung" und „Beanspruchung" lassen sich an einem einfachen, mechanistischen Modell veranschaulichen (Abbildung 1).
Abb. 1: Modell zur Veranschaulichung der Beziehungen zwischen Belastung und Beanspruchung
Aus diesem Modell lassen sich trotz seiner Einfachheit folgende anschaulichen Beziehungen ableiten: • Bei gegebener Belastung und konstanten Eigenschaften hängt die Beanspruchung von der Veränderung der Belastung ab. Veränderungen der Belastung führen zu Veränderungen der Beanspruchung. • Bei gegebener Belastung und variablen Eigenschaften hängt die Beanspruchung von der Belastung und der Variation der Eigenschaften ab. Veränderungen oder Unterschiede von Eigenschaften führen zu Veränderungen der Beanspruchung. Zusammenfassend bedeutet das: Verschiedene Menschen sind bei gleicher Belastung immer verschieden beansprucht!
Abb. 2: Verschiedene Menschen bei gleicher Belastung
Ausgehend von der arbeitsmedizinisch begründeten Erklärung von Belastung (Wirkung) und Beanspruchung (Veränderung) handelt es sich bei dem dargestellten Ansatz in seiner einfachsten Form um eine Ursache-Wirkungs-Beziehung. Danach könnte man beispiels-weise „arbeitsbedingte Erkrankung" als eine „belastungsbedingte Veränderung" von Eigenschaften verstehen. Solche Überlegungen machen deutlich, dass das dargestellte triviale Modell für eine Anwendung in der Ergonomie oder Arbeitsmedizin noch erweitert werden muss. Erweiterung des Konzepts In dem Ansatz muss auch zum Ausdruck kommen, dass sich Eigenschaften durch Belastung verändern können. Hiermit würde beispielsweise auch die alltägliche Erfahrung zu erfassen sein, dass Belastung zu Ermüdung führen kann.
Abb. 3: Veränderung der Beanspruchung bei Veränderung von Eigenschaften durch Ermüdung
Wie Abbildung 3 zeigt, kann man Ermüdung auch als eine durch eine (reversible) Abnahme von Eigenschaften verursachte Veränderung der Beanspruchung verstehen. Erholung entspricht dann einer Wiederherstellung des ursprünglichen Zustandes von Eigenschaften. Diese Veränderungen von Eigenschaften können weiter dazu führen, dass sich die Art der Ausführung der Arbeit (s. u.) ändert. Damit können Veränderungen von Eigenschaften aber auch auf die Belastung rückwirken. Nach dem erweiterten Ansatz gilt also: • Eine gegebene Belastung kann zu Veränderungen von Eigenschaften führen. • Veränderungen von Eigenschaften führen auch bei konstanter Belastung zu Veränderungen der Beanspruchung. • Veränderungen der Beanspruchung können sich auch auf die Belastung auswirken. In dem erweiterten Ansatz sollte schließlich auch dargestellt werden, welche Beziehungen zwischen Belastung und Beanspruchung einerseits und dem Arbeits-ergebnis andererseits bestehen. Verknüpfung mit der Gefährdungsbeurteilung Das Arbeitsschutzgesetz verlangt in § 5 eine "Beurteilung von Arbeitsbedingungen" und die Ermittlung "der für die Beschäftigten verbundenen Gefährdung". In § 5 (3) werden Arbeitsbedingungen genannt, aus denen sich "insbesondere" eine Gefährdung ergeben kann. Die in Abbildung 4 übernommenen Punkte 1. - 4. entsprechen im Belastungs-Beanspruchungs-Konzept dem bisher beschriebenen Begriff der Belastung. Der Punkt 5. dagegen betrifft die Eigenschaften der arbeitenden Personen. Durch "Qualifikation und Unterweisung" werden Fähigkeiten, Fertigkeiten aber auch das Verhalten an gegebene Anforderungen durch die auszuführende Arbeit angepasst. Eine "unzureichende Qualifikation und Unterweisung der Beschäftigten" (§ 5 (3) Pkt. 5.) beeinflusst demnach Eigenschaften (vgl. Abb.1: niedrige Qualifikation = geringe Eigenschaften = hohe Beanspruchung). Die in der Abbildung 1 und 3 dargestellten Zusammenhänge werden in Abbildung 4 noch durch das angestrebte Arbeitsergebnis als dem eigentlichen Ziel der menschlichen Arbeitstätigkeit ergänzt. Die Beanspruchung kann danach als der "menschlichen Aufwand" verstanden werden, der notwendig ist, um das vorgegebene Arbeitsergebnis zu erreichen.
Abb. 4: Gefährdungen nach ArbSchG im erweiterten Belastungs-Beanspruchungs-Konzept
Abbildung 4 soll weiter verdeutlichen, dass die Beanspruchung auf die Eigenschaften zurück wirken kann. Hohe Beanspruchung kann sich beispielweise auf das Verhalten auswirken und damit auch den verlangten Arbeitsablauf verändern.
"Arbeitsabläufe" aber auch der "Umgang" mit Arbeitsmitteln als "Belastungen" und die sich daraus ergebenden Gefährdungen sind damit keine statischen zeitlich konstanten Phänomene, sondern können ebenfalls von der Beanspruchung abhängig sein (deshalb in Abb. 4 kursiv gekennzeichnet). Ein anschauliches Beispiel zu solchen Abhängigkeiten ist die Arbeitsermüdung (vgl. Abb. 3). Arbeitsermüdung wirkt sich durch die dadurch veränderten Handlungen fast immer auch auf das Arbeitsergebnis (Quantität und/oder Qualität) aus. Im extremen Fall der Erschöpfung kann dies sogar den Abbruch der Arbeit, also ein unvollständiges oder fehlerhaftes Arbeitsergebnis (beispielweise Unfälle beim Führen von Kraftfahrzeugen) zur Folge haben. Bei der "Beurteilung der Arbeitsbedingungen" nach § 5 ArbSchG sollten deshalb nach Abbildung 4 auch die Möglichkeit von zeitlich nicht konstanten Gefährdungen beachtet werden.
Literatur
1
Lehmann, G.: Praktische Arbeitsphysiologie. Thieme, Stuttgart, 1953
2
Valentin, H., Klosterkötter, W., Lehnert, G., Petry, H., Rutenfranz, J., Wittgens, H.: Arbeitsmedizin. Ein kurzgefasstes Lehrbuch für Ärzte und Studenten. Thieme, Stuttgart, 1971
3
DIN EN ISO 6385:2004-05: Grundsätze der Ergonomie für die Gestaltung von Arbeitssystemen (ISO 6385:2004); Deutsche Fassung EN ISO 6385:2004
4
Laurig, W., Becker-Biskaborn, G.-U., Reiche, D.: Software problems in analyzing physiological and work study data. Ergonomics 14 (1971) 5, 625 - 631
5
Rohmert, W. Das Belastungs-Beanspruchungs-Konzept. Z.Arb.wiss. 38 (10 NF) 1984,193 - 200
Verfasser: Dr.-Ing. Wolfgang Laurig Univ.-Prof. em. für Ergonomie TU Dortmund
http://www.ergonassist.de