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Heinzpeter
Rühmann und Heinz Schmidtke
Ergonomie: Gestern - heute - morgen *) *) mit freundlicher Genehmigung aus:
Ergonomie aktuell Zeitung des Lehrstuhls für Ergonomie Technische
Universität München Institutionelle
Aspekte
Der
Terminus "Ergonomie" wurde erstmals 1857 von dem polnischen Wissenschaftler
Jastrzebowski verwendet, ohne dass dieser Begriff jedoch Verbreitung fand.
Erst 1949 wurde in England eine "Ergonomics Research Society" gegründet, der
in den Folgejahren Gesellschaften gleichen Namens in Frankreich, Holland und
Italien folgten. In den USA wurde die "Human Factors Society" gegründet, obwohl
man dort neben dem Terminus "Human Factors" auch den des "Human Engineering"
verwendete. In Deutschland sammelten sich die Wissenschaftler aus den Bereichen
Arbeitsphysiologie, Arbeitspsychologie, Arbeitstechnologie, Arbeitspädagogik
und Betriebssoziologie in der 1953 neu gegründeten wissenschaftlichen Gesellschaft,
der man im Hinblick auf die Vorsilben "Arbeit" der Teildisziplinen den Namen
"Gesellschaft für Arbeitswissenschaft" gab. Während die Gesellschaften in
England, Holland und den USA die vornehmlich von Psychologen - angewandte
und experimentelle Psychologen - getragen wurden, spielten in Frankreich und
Deutschland in den Anfangsjahren Ingenieure und Arbeitsphysiologen eine vordergründige
Rolle. Die Kollegen in England, USA und Holland konzentrierten ihre Aktivitäten
auf die Auslegung der Mensch-Maschine-Schnittstelle, wohl auch deshalb, weil
sie von den jeweiligen militärischen Stellen wesentliche Forschungsförderung
erhielten.
In
Deutschland war eine solche Förderung die Ausnahme. Hier rückten - wohl auch
unter dem Einfluss von Gewerkschaften und unserer jüngeren Geschichte - sozialwissenschaftliche
Fragestellungen mehr und mehr in den Vordergrund. Diese Tendenz kulminierte
in den siebziger und achtziger Jahren in einem groß angelegten Forschungsprogramm
zur "Humanisierung des Arbeitslebens" des Bundesministeriums für Forschung,
in dem viele hundert Millionen DM darauf verwendet wurden, jungen Soziologen
zu zeigen, wie eine Fabrik von innen aussieht. Die Ergebnisse dieser Forschungsarbeiten
waren eher bescheiden und haben keine nennenswerten Spuren hinterlassen.
Die
relative Dominanz der Sozialwissenschaftler in der Gesellschaft für Arbeitswissenschaft
und auf den jährlichen Kongressen hat Prof. Schmidtke Anfang der achtziger
Jahre bewogen, seinen Lehrstuhl als ersten in Deutschland in "Lehrstuhl und
Institut für Ergonomie" umzubenennen, um damit darzulegen, dass wir den ingenieurwissenschaftlichen
Sektor der Arbeitswissenschaft in den Mittelpunkt unserer Forschung stellen.
Einige Jahre später wurde auch an der Universität Dortmund ein Lehrstuhl für
Ergonomie gegründet, den bis jetzt Prof. Laurig innehat.
Alle
übrigen Technischen Universitäten haben Lehrstühle für Arbeitswissenschaft,
die z. T. je nach Historie mit Betriebswirtschaft, Betriebsorganisation, Didaktik
oder Land- und Forstwirtschaft verknüpft sind (z. B. in Wien, Kaiserslautern,
Karlsruhe, Hamburg, Hannover). Die landwirtschaftliche und die forstwirtschaftliche
Arbeitswissenschaft haben eine lange Tradition in Deutschland: Prof. Preuschen
war Direktor des Max-Planck-Instituts für Landtechnik in Bad Kreuznach, und
Prof. Hilf hatte den Lehrstuhl für forstliche Arbeitswissenschaft in Hamburg
inne. In Bad Kreuznach wurde z. B. beachtliche Forschung über die Auswirkungen
mechanischer Ganzkörper-Schwingungen auf den Menschen bei Arbeiten mit Ackerschleppern
durchgeführt und die Arbeitsgruppe um Prof. Hilf in Hamburg hat sich um die
Erforschung der Auswirkungen von Schwingungen auf das Hand-Arm-System durch
Kettensägen bei Waldarbeiten verdient gemacht.
Die
größten Auswirkungen auf die Ergonomie und Arbeitswissenschaft in Deutschland
hatte jedoch das "Max-Planck-Institut für Arbeitsphysiologie" in Dortmund.
Die Abteilung von Prof. Lehmann schuf entscheidende Grundlagen der Analyse
und Bewertung energetischer Prozesse im Organismus und lieferte zugleich wesentliche
Informationen über die Auswirkungen von Lärm und Klima auf Gesundheit und
Leistungsfähigkeit. In der Abteilung von Prof. Müller wurde vorwiegend Kreislaufphysiologie
betrieben und die heute vertretenen Grenzwerte über die zulässige Herzschlagfrequenz
bei dynamischer Muskelarbeit geschaffen. Die Abteilung von Prof. Graf und
seit 1955 von Prof. Schmidtke befasste sich mit Ermüdungsforschung, Sinnesleistungen
und mit der Gestaltung von Arbeits- und Betriebsmitteln. In den sechziger
Jahren wurde das Max-Planck-Institut für Arbeitsphysiologie in ein "Institut
für Systemphysiologie" umgewandelt und hat seit dem seinen Ruf als wissenschaftliche
Hochburg verloren. Das Land Nordrhein-Westfalen wollte sich mit dieser Entscheidung
der Max-Planck-Gesellschaft nicht abfinden und gründete als Nachfolgeinstitut
das "Institut für Arbeitsphysiologie" an der Universität Dortmund mit Abteilungen
für Sinnesphysiologie, Ergonomie, Arbeitspsychologie, Umweltphysiologie und
Toxikologie. Ergonomie in der in München vertretenen Sicht wird nur noch in
Darmstadt, Dortmund und z. T. in Dresden und Karlsruhe betrieben.
Inhaltliche
Aspekte
Welchen
Fragen hat sich die Ergonomie gestern zugewandt? Die Beschäftigung mit den
Möglichkeiten und Grenzen menschlichen Leistungsvermögens begann - sieht man
von den ersten preußischen Arbeitsschutzgesetzen von 1839 und 1853 einmal
ab - in den Jahren des 1. Weltkrieges, als die Notwendigkeit bestand, für
neuartige militärische Funktionen (z. B. Piloten, Funker, Kraftfahrer) geeignete
Soldaten zu finden. In dieser Zeit entwickelte sich aus der Psychologie eine
als "Psychotechnik" bezeichnete Disziplin, die bald an einigen deutschen Technischen
Hochschulen heimisch wurde. Angesiedelt waren die Psychotechniker überwiegend
an den Lehrstühlen für Werkzeugmaschinen und Fertigungstechnik.
Ein
weiterer Teilbereich könnte als "Arbeitstechnologie" bezeichnet werden. Dieser
Bereich hat seine Wurzeln in dem 1924 gegründeten "Reichsausschuss für Arbeitsstudien"
- REFA -. Die ersten REFA-Bücher über Methodik der Arbeitszeitermittlung,
über Arbeitsbewertung und Arbeitsgestaltung fanden weiteste Verbreitung in
der Wirtschaft, wohl auch deshalb, weil in den Leitungsgremien des REFA neben
Fachleuten Vertreter der Arbeitgeber und der Gewerkschaften zusammen saßen.
Entscheidende
Impulse für die Entwicklung unserer Disziplin gingen neben den Psychotechnikern
und Arbeitstechnologen von der "Arbeitsphysiologie" aus und hier insbesondere
von dem 1913 in Berlin gegründeten "Kaiser-Wilhelm-Institut für Arbeitsphysiologie",
welches 1929 nach Dortmund verlegt wurde und nach dem 2. Weltkrieg als "Max-Planck-Institut
für Arbeitsphysiologie" bis etwa 1966 existierte.
Gemeinsames
Ziel der hinter diesen genannten Disziplinen stehenden Forscherpersönlichkeiten
war es, die Grenzen der vom Menschen ausführbaren Arbeit zu finden, d.h. diejenigen
Grenzen, bis zu denen ein geeigneter und eingeübter Mensch Leistungen ohne
Gesundheitsschäden zu erbringen vermag. Besondere Bedeutung erlangte diese
Forschung in den Jahren des 2. Weltkrieges, als bestimmt werden musste, welche
Nahrungsmittel den körperlich schwer arbeitenden Menschen in der Industrie
zuzubilligen waren. Derartige Festlegungen waren nur auf der Basis der genauen
Kenntnis über den Energieumsatz bei muskulärer Arbeit möglich. Hier haben
die Arbeiten des Max-Planck-Institutes bahnbrechende Grundlagen geliefert.
Während
bis ca. 1945 die Forschung primär an den Grenzen der Ausführbarkeit von Muskelarbeit
orientiert war, zeigten die Folgejahre eine breitere Differenzierung. So traten
mehr und mehr Untersuchungen über den Einfluss von Umweltfaktoren (insbesondere
Lärm, Klima, mechanische Schwingungen) auf Befinden, Leistung und Gesundheit
in den Vordergrund. Die Ergebnisse dieser Forschungen fanden ihren Niederschlag
in Arbeitsschutzgesetzen, Verordnungen, Richtlinien und Normen und wurden
damit aus dem "Elfenbeinturm" der Wissenschaft transferiert und Gegenstand
einer allgemeinen Regulation der Arbeitstätigkeit. So wird u.a. im Betriebsverfassungsgesetz,
in der Arbeitsstättenverordnung, der Gefahrstoffverordnung und im Arbeitssicherheitsgesetz ausdrücklich darauf hingewiesen, dass
die gesicherten arbeitswissenschaftlichen Erkenntnisse über die Gestaltung
von Arbeitsplatz, Arbeitsmitteln und Arbeitsumwelt in der industriellen Praxis
strikt zu berücksichtigen sind.
Mit diesen Festlegungen trat zugleich ein qualitativer Wandel der Forschungsziele in Erscheinung. Es ging nicht mehr vordergründig um die Frage, was der menschliche Organismus überhaupt zu leisten vermag, sondern welche Leistung auf Dauer als erträglich zu bezeichnen ist. Mit dem Paradigma der Erträglichkeit wurde der Schutz der Gesundheit in den Vordergrund gestellt. Pausenregelungen sowohl bei muskulärer als auch bei mentaler Belastung und die Bereitstellung von Körperschutzmitteln (Gehörschutzmittel, Sicherheitsschuhe, Schutzhelme usw.) sind Beispiele für diese neuere Zielsetzung Nun
sind durch den Wandel der Arbeitsbedingungen in der Wirtschaft unter dem Einfluss
der Automatisierung die meisten nur schwer ausführbaren und wenig erträglichen
Arbeiten entfallen, wenngleich es solche noch immer in den Hinterhöfen der
Fabriken gibt. Das wachsende Anspruchsniveau der Menschen hat auch vor ihrer
Arbeit nicht Halt gemacht. Mehr und mehr wird in der Arbeitswelt die Frage
aufgeworfen, ob eine Tätigkeit nach Art und Inhalt für den heutigen Menschen
noch zumutbar ist. Mit der Diskussion des Begriffes der Zumutbarkeit befinden
wir uns in der Gegenwart. Mit den am hiesigen Lehrstuhl durchgeführten Arbeiten
über die 3D-Mensch-Modellierung stehen wir inmitten dieses Problemfeldes.
Hierbei geht es ja beispielsweise nicht vordergründig um die Frage, ob ein
Mensch in ein Kraftfahrzeug passt, sondern darum, ob die Bedingungen im Fahrzeug
für einen großen Anteil potenzieller Benutzer komfortabel sind. Komfort bei
der Benutzung technischer Einrichtungen ist eine Forderung des Käufers und
zugleich ein entscheidendes Werbeargument geworden.
Nun
ist es eine menschliche Eigenschaft, dass seine Wünsche sehr viel schneller
wachsen als seine Möglichkeiten der Wunschbefriedigung. Diese Feststellung
gilt auch für die Arbeitswelt. Es genügt heute offenbar nicht mehr, dass eine
Arbeit ausführbar, erträglich und zumutbar ist. Sie soll zugleich einen Beitrag
zu seiner geistigen Entfaltung liefern. Die Forderung nach Persönlichkeitsförderlichkeit
wird die Arbeitsgestalter und damit auch die Ergonomen in Zukunft mehr und
mehr beschäftigen. Sicher wird es Tätigkeiten geben, wo durch Einführung des
Rotationsprinzips sowohl ein größerer Überblick über die Gesamtaufgabe als
auch eine Erweiterung des eigenen geistigen Horizontes durch Lernen möglich
ist. Ob allerdings auch jeder Einzelne dies als Gewinn betrachtet, darf nach
den Ergebnissen der Forschungsprogramme über die Einführung teilautonomer
Gruppenarbeit bezweifelt werden. Sozialutopisten übersehen gerne, dass es
in jeder Population einen nicht unerheblichen Anteil an Menschen gibt, die
- z. T. auf Grund ihrer begrenzten intellektuellen Ausstattung - keine besonderen
Vorlieben für neuartige Aufgaben haben und sie übersehen auch, dass es nun
einmal Arbeiten gibt, die wenig zur geistigen Bildung beitragen können. Würde
man z. B. die inhaltlich wenig attraktive Arbeit der Müllabfuhr weitgehend
automatisieren, so würden zugleich ein Anteil der dort beschäftigten Personen
genauso auf die Lohnliste der Bundesanstalt für Arbeit befördert, wie das
mit den schwer arbeitenden Schweißern im Karosseriebau geschehen ist, deren
Schweißzangen durch Schweißroboter ersetzt
wurden.
Was
sind die zentralen Fragen der Ergonomie morgen?
Sicher
werden die Problemfelder des Komforts und der Persönlichkeitsförderlichkeit
noch eine gewisse Zeit virulent sein. Der Beitrag des Komforts zur Systemwirksamkeit
technischer Einrichtungen ist sicher noch nicht abschließend zu beurteilen.
Zugleich wird die weitere Verbreitung der Informationstechnik neue Fragen
aufwerfen. Schon heute sind wir unsicher, ob die Anreicherung unserer Fahrzeuge
mit immer mehr Elektronik und Displays der Fahrsicherheit zuträglich ist.
Aus dieser Sicht kommt der Entwicklung und Weiterentwicklung von Assistenzsystemen
große Bedeutung zu.
Auch
manche Probleme der Softwareergonomie harren noch ihrer Lösung. Benutzerfreundlichkeit
ist zwar ein verbreitetes Werbeargument, bei zahlreichen Anwendungsprogrammen
sieht die Wirklichkeit jedoch ganz anders aus. Geradezu miserabel sind viele
Bedienungsanleitungen, selbst wenn sie nicht aus anderen Sprachen übersetzt
wurden. Auch hier könnte die Ergonomie einen Beitrag zur Förderung der Benutzerfreundlichkeit
liefern. Probleme der Analyse und Messung mentaler Beanspruchung sind bis
heute noch nicht gelöst und stellen für intelligente Ergonomen der Zukunft
eine echte Herausforderung dar. Gleiches gilt für das gesamte Problemfeld
der menschlichen Zuverlässigkeit, von der wir bei fortschreitender Automatisierung
noch mehr abhängig sein werden als bisher. Orientierungs- und Navigationshilfen
in einer virtuellen Umwelt werden sicher künftig stärker gefragt sein als
die heute noch mancherorts gepflegte "Knöpfchenergonomie". Schließlich werden
wir mit fortschreitender Automatisierung in der Industrie und im Verkehr immer
mehr Arbeitsplätze bekommen, an denen lediglich das korrekte Funktionieren
der Automatik ohne nennenswerte eigene Handlungsmöglichkeiten zu überwachen
ist. Die Frage, wie sich der Mensch in einer solchen inhaltlich entleerten,
aber um so verantwortlicheren Tätigkeit auf Dauer zurechtfindet, ist noch
weitgehend offen.
Ergonomie
ist in Deutschland ein wichtiges Werbeargument geworden, sowohl bei Industriegütern
als auch bei solchen des täglichen Bedarfs. Dies ist sicher auch ein Verdienst
der Münchner Ergonomen. Aber solche Verdienste haben nur eine sehr kurze Halbwertszeit.
Wir verfolgen daher seit Jahren das Ziel, aktuelle ergonomische Fragestellungen
zu beantworten, die mit dem raschen technologischen Wandel verknüpft sind
und der Öffentlichkeit die Ergebnisse unserer Forschung in einer für sie geeigneten
Form zu präsentieren. Nur so können wir den von uns erarbeiteten Ruf erhalten
und festigen.
Univ.-Prof. em. Dr.-Ing. Wolfgang Laurig - Mitarbeiterorientierte Prozessqualität in Verwaltung und Produktion |